Als Kind habe ich ein Buch wieder und wieder gelesen: ‚Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer‘ von Michael Ende. Darin gehen Jim und sein großer Freund Lukas auf eine abenteuerliche Reise. Sie begegnen dabei neben Drachen und chinesischen Köchen auch einem Scheinriesen: Herrn Tur Tur.
Ein Scheinriese ist an sich ein ganz normaler Mensch — so erklärt es Herr Tur Tur — nur dass die Scheinriesen eine persönliche Eigenart haben: Entfernen sie sich vom Betrachter, so werden sie nicht kleiner, wie es bei gewöhnlichen Menschen den Anschein hat — nein, Scheinriesen werden in der Entfernung immer größer. Das ist ihr Schicksal, denn da man meistens einen anderen Menschen erst mal aus einer gewissen Distanz heraus sieht, denken alle, Herr Tur Tur wäre riesengroß und gefährlich. Sie laufen fort… was Herrn Tur Tur noch größer erscheinen lässt! Und so fristet Herr Tur Tur ein ziemlich einsames Dasein. Gut, dass Jim und Lukas beherzt genug sind, auf den Scheinriesen zuzugehen: so schrumpft er auf Normalmaß, und die beiden lernen einen sehr sympathischen und überdies ausgesprochen hilfsbereiten Zeitgenossen kennen.
An den Scheinriesen Tur Tur denke ich immer mal wieder, wenn ich in Zeitungen etwas zum Thema ‚Künstliche Intelligenz‘ lese oder im Radio höre: Im Titel und im Aufmacher klingt das zunächst einmal nach irre gefährlich und geradezu boshaft: „Wenn der Algorithmus das Ich angreift“ (Deutschlandfunk) oder:
Das sind dann wohl Riesenprobleme, vor denen man sich kaninchenklein und fluchtbereit fühlt. Kein guter Ansatz, um mit einem Phänomen umzugehen, das unser Leben jetzt schon tiefgreifend prägt und zukünftig noch sehr viel stärker prägen wird. Die bessere Option wäre: darauf zugehen und genau hinschauen. Dann reduzieren sich die Riesenprobleme auf ihr tatsächliches Ausmaß und werden in ihren realen Auswirkungen erfassbar.
Gewiss, sie werden dadurch nicht simpel und vor allem nicht harmlos. Aber sie erscheinen nicht mehr als unentrinnbares Verhängnis, sondern als ein Werkzeug, das wir Menschen ganz gut gebrauchen können, um uns in unserer reichlich überkomplex gewordenen Welt zurecht zu finden und uns neue Handlungsmöglichkeiten zu erschließen.
Damit sind ethische Fragen verbunden, die wir klären müssen… drei Beispiele:
- Darf eine Arbeitsstelle besetzt werden, indem ein Computeralgorithmus die Bewerbungen sichtet und den geeignetsten Kandidaten auswählt? — Bei Amazon, zum Beispiel, hat man bei diesem Verfahren unter anderem die Erfahrung gemacht, dass der Algorithmus Bewerberinnen aussortierte, weil er mit einer Datenbank trainiert worden war, in der Männer auf diesem technikorientierten Arbeitsfeld dominant erschienen.
- Ist es hinnehmbar, dass automatisierte Accounts in den sozialen Medien, sogenannte ‚Bots‘, mein Nutzerverhalten analysieren und mir Nachrichten anzeigen, die mein Wahlverhalten zu beeinflussen versuchen? — Der Skandal um ‚Cambridge Analytica‘ hat gezeigt, dass diese Technik sogar demokratiegefährdend wirken kann.
- Ist es sinnvoll, Robotern ab einer gewissen Komplexität einen Personen–Status zuzuerkennen — die sogenannte elektronische Person oder ‚E–Person‘? — Das wäre immerhin eine Möglichkeit, Haftungsansprüche bei vom Roboter verursachten Schäden justiziabel zu machen; andererseits wird damit der Begriff der ‚Person‘, der in Philosophie, Ethik und christlicher Soziallehre stark mit Bedeutung gefüllt ist, so überdehnt, dass er möglicherweise an Aussagegehalt verliert.
Diese ethischen Fragen müssen geklärt werden. Und bei dem Tempo, in dem sich die Forschung zur Künstlichen Intelligenz entwickelt, müssen sie bald geklärt werden — abgesehen davon, dass die Fragen mit dem Fortschritt der Forschung sozusagen ‚nachwachsen‘. Natürlich ist das eine Aufgabe für Experten. Aber sie erfordert auch das interessierte Mitdenken von Nicht–Experten: von denen, die die Kompetenz der Betroffenheit einzubringen haben — also uns.
Wir werden uns weiter in den nächsten Ausgaben von Deutsch–Evangelisch in Finnland mit diesem Thema beschäftigen. Dazu bitten wir Lukas Gienapp — er studiert zur Zeit Digitale Humanwissenschaften in Leipzig — die wichtigsten Begriffe aus dem Themenfeld Künstlicher Intelligenz kurz und bündig zu erklären — sie erscheinen begleitend zu den Beiträgen.
Anfang Oktober 2019 wird es dann in Helsinki einen ganzen Seminartag zum Thema ‚Künstliche Intelligenz x Ethik x Finnland x Deutschland x Wissenschaft x Kirche x Wirtschaft‘ geben, den das hiesige Goethe–Institut Finnland), die am Senaatintori ansässige Deutsch–Finnische Handelskammer (DFHK/ AHK) und unsere Gemeinde (DELGiF) gemeinsam vorbereiten.
Wenn Sie Fragen oder Anregungen zu diesem Thema haben, können Sie uns gerne schreiben, E–Mail redaktion@deutschegemeinde.fi. Wir werden versuchen, kompetente Menschen zu finden, die etwas dazu zu sagen und schreiben können. Und Ihre Anregungen und Fragestellungen können das Seminar bereichern.
Artikel von Pastor Hans–Christian Beutel, mit Infobox von Lukas Gienapp, erschienen im Gemeindebrief ‘Deutsch–Evangelisch in Finnland’, Nr. 4/2019 am 15. Juni 2019.